Die einem Einzelnen zugefügte Ungerechtigkeit ist eine Bedrohung für uns alle

 

 


Indigene in Brasilien (Auszüge aus der Diplomarbeit von Melanie Hofmann, 2004)

Im Jahr 2000 leben in Brasilien 169 799 170 Menschen, davon sind laut FUNAI ca. 300.000 indigen, also etwa 0,4%. Nach Rasse bilden sie die kleinste Bevölkerungsgruppe.
Als im Jahre 1500 Cabral in Brasilien landet, leben rund fünf Millionen Indigene im Gebiet des heutigen Brasiliens. Schätzungsweise 900 Völker sprechen 1.000 bis 1.200 indigene Sprachen
.
Die Anzahl der Indigenen wächst seit einigen Jahren beständig um 3,5% im Jahr. Man schätzt heute 220 Völker, die etwa 170 Sprachen sprechen
.

Guarani-Kaiowá – Indigene in Mato Grosso do Sul/ Brasilien

Der Bundesstaat Mato Grosso do Sul

Mato Grosso do Sul (MS) gehört zur Zentral – West - Region und hat Landesgrenzen mit Paraguay und Bolivien. MS umfasst eine Fläche von 358.158,7 km² und hat im Jahr 2000 2.075.275 Einwohner. Seit 1998 stellt die PT die Gouverneure, welche offensichtlich sensibler auf die Probleme der Indigenen reagieren.
Einst eine baumreiche Region, finden sich in Mato Grosso do Sul heute Steppenlandschaften.

Mato Grosso do Sul ist der größte brasilianische Produzent von Schlachtvieh, einer der größten von Sojaprodukten sowie von Zucker und Alkoholbenzin.

Mato Grosso do Sul ist der Bundesstaat mit dem zweithöchsten indigenen Bevölkerungsanteil in Brasilien.

Guarani – Kaiowá - Indigene

Die Guarani sind mit ca. 60.000 Mitgliedern die größte indigene Volksgruppe in Südamerika, davon leben etwa 40.000 in Brasilien. Sie unterteilen sich in drei Gruppen: M´byá, Chiripá/ Ñandeva und Kaiowá. Sie leben in sieben brasilianischen Bundesstaaten des Südens sowie in Bolivien, Paraguay, Argentinien und Uruguay.

Die Gruppe der Guarani – Kaiowá lebt mit etwa 25.290 Mitgliedern im Süden des Bundesstaates Mato Grosso do Sul. Sie sind die größte indigene Ethnie Brasiliens. Das Wort „Kaiowá“ bedeutet „Herrscher der Wälder“.
Gomes beschreibt die Guarani als nicht integriert oder assimiliert in die brasilianische Gesellschaft, obgleich sie seit etwa 200 Jahren Kontakt zu ihr haben.

Landverteilung

Vor 200 Jahren besiedeln die Guarani – Kaiowá in Mato Grosso do Sul ca. 8,7 Mio. Hektar Land (25% des Bundesstaates). Heute besitzen sie etwa 1% ihres ursprünglichen Territoriums. Sie leben in 22 Indigenen – Territorien, von denen 8 als indigene Reservate gelten, welche zwischen 1915 und 1928 demarkiert wurden. 14 sind originäre indigene Territorien, welche seit den 1980er Jahren wieder von den Indigenen in Besitz genommen wurden.

Das ursprünglich indigene Land ist heute größtenteils in der Hand von Großgrundbesitzern. Obwohl diese große Teile ihres Landes nicht einmal bewirtschaften, bestehen sie auf ihrem Eigentum und verteidigen es mit Gewalt.

Das Hauptanliegen der Guarani – Kaiowá heute ist die Rückgewinnung des Bodens ihrer Vorfahren, zu welchem sie eine mystische Beziehung pflegen.

Juristisch steht den Indigenen ihr ursprüngliches Land zu. Jedoch ist der Prozess der Rückgewinnung sehr langwierig und aufwendig. Er wird von gegnerischen Interessensgruppen blockiert oder verhindert. Um ihre Rechte zu erzwingen, besetzen die Guarani - Kaiowá oftmals das ihnen zustehende Land, werden jedoch gewaltsam vertrieben.

In 2001 unterliegen nur 47.679 Hektar dem Prozess der Vermessung, 39.544 Hektar sind den Indios überschrieben, 8.135 Hektar sind von Dritten besetzt.

Geschichte der Guarani – Kaiowá in Mato Grosso do Sul

„…das Blut Tausender von Indianern der vergangenen Jahrhunderte, das Blut unzähliger Armer, die aus der Welt geschafft wurden, von denen man das Gebiet „gesäubert“ hat, um dem Großgrundbesitz Platz zu machen“ (Erwin Kräutler)

Der erste Kontakt der Guarani - Kaiowá mit Eroberern wird auf 1524 datiert. Die Indigenen bilden „Hunderte von Stämmen“ und werden als „Lebewesen der Wälder“ bezeichnet. Ab dieser Zeit werden sie von verschiedenen Bevölkerungsgruppen „erobert“ und vertrieben. In diesem Kapitel soll lediglich die jüngere Geschichte, welche die heutige Lebenssituation der Guarani - Kaiowá verursachte, dargestellt werden.
Den ersten prägenden Veränderungen ihrer Tradition werden die Guarani - Kaiowá von den  Jesuiten unterworfen (16. und 17. Jahrhundert), welche ihnen ein autarkes Leben in Gemeindeverbunden, basierend auf kollektivem Ackerbau und Viehzucht (zuvor Wanderfeldbau), beibringen. Die Indios brillieren in der „…perfekten Übernahme europäischer Kulturmuster“
.
Weitere „Eroberer“ und „Vertreiber“ dieser Zeit sind die Entradas und Bandeirantes, offizielle und illegale Siedler, welche das der portugiesischen Krone zugesprochene Land besiedeln und nutzbar machen.
Große Teile ihres Bodens verlieren die Indigenen beim Beginn der Mateteeproduktion durch die  „Companhia Matte Larangeiras“ nach Ende des „Paraguayischen Krieges“ (1864-69). Sie werden von ihrem Boden vertrieben und als Arbeiter gegen einen Hungerlohn genutzt.  
In den darauf folgenden Jahrzehnten ziehen Tausende von Migranten aus ganz Brasilien zu, welche kleine Ländereien und Großgrundbesitze bewirtschaften. Die traditionellen Landrechte der Indigenen werden ignoriert.
Zwischen 1915 und 1935 wird ein großer Teil der Guarani - Kaiowá von staatlichen Behörden (SPI) in acht Reservaten untergebracht (19.700 Hektar), in welchen die „Integration der Indios in die brasilianische Gesellschaft“ gefördert werden soll. Die Praxis dient aber lediglich zum gewaltsamen „Säubern des Landes".


In den 1950er Jahren werden die ersten Land- und Viehwirtschaftsfarmen errichtet, was zur Zerstörung der Wälder führt. Die noch „freien“ Guarani - Kaiowá ziehen sich immer weiter zurück in die Wälder, welche nach und nach von den Farmern in Besitz genommen werden. Die Indigenen beginnen zu verelenden.
In den 1970er Jahren erleiden die wenigen noch „freien“ Indigenen die Vertreibung aus dem Rest ihres ursprünglichen Gebietes: Unternehmer aus dem Süden kaufen billig Land in Mato Grosso do Sul und legen Weizen- und Sojaplantagen an. Viele Indigene irren umher und zerstreuen sich.
Insgesamt werden zwischen den 1940er und 1970er Jahren die Indigenen von etwa 100 Gemeinden vertrieben. Die Guarani - Kaiowá leisten als pazifistische Ethnie keinen Widerstand.

Ende der 1970er Jahre erreicht die Verelendung der Guarani - Kaiowá geographisch und kulturell ihren Höhepunkt. Der Rückzug wird immer unmöglicher, die psychische Belastung immer größer. Die Wälder sind abgeholzt, der Alkohol ist weit verbreitetes Suchtmittel.
So entscheiden die Guarani - Kaiowá zu Beginn der 1980er Jahre, Widerstand zu leisten mit Unterstützung der katholischen Kirche und Anthropologen.
Nach Rückgewinnung einiger indigener Gebiete verstärken die Großgrundbesitzer ihren Druck, richterliche Entscheidungen fallen zu Ungunsten der Guarani – Kaiowá. Gewaltsame Deportationen über Hunderte von Kilometern weg von reservierten Gebieten werden aus Willkür und Machtpolitik durchgeführt
Seit den 90er Jahren verbessert sich die Situation ein wenig, u.a. durch die Maßnahmen von CIMI, respektive die Indiopastoral. 

Aktuelle Lebenssituation

„Indianer sind nicht bereit, um jeden Preis zu überleben. Sie beanspruchen ein Minimum an menschlicher Lebensqualität, sonst ziehen sie es vor zu gehen. Für dieses Minimum setzen sie sich aber sehr ein, sie geben wahrhaftig nicht leicht auf.“ (Friedl Grünberg)

Der CIMI beschreibt die heutige Situation der Guarani - Kaiowá mit Schlagwörtern wie „Hunger“, „Elend“, „Verlassensein“, „Diskriminierung“, „Krankheiten wie Tuberkulose, Alkoholismus“, „Prostitution“, „Selbsttötungen“ und „anderen Übeln der kapitalistischen Gesellschaft, von welcher sie gewaltsam ausgeschlossen werden“.
Die Vertreibung der Indigenen bis in die 1970er Jahre führte zu der heute bestehenden Zusammensetzung der Dorfgemeinschaften. Viele Familien sind verstreut über mehrere Dorfgemeinschaften, was den kulturellen, ethnischen und familiären Zusammenhalt der Familien stört. Das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe besteht nicht mehr, die Bildung einer ethnischen Identität ist erschwert. Die Akzeptanz eines religiösen und politischen Führers ist verloren gegangen. Die Veränderungen innerhalb der Dorfgemeinschaften und der politischen Führung brachte eine heute bestehende Orientierungslosigkeit mit sich, welche die Guarani - Kaiowá von einer starken Persönlichkeit aus ihren Reihen erhoffen. Traditionell hat diese Rolle der Kazike inne.
Traditionell lebten die Guarani - Kaiowá von Jagd, Fischfang und ergänzend von Wanderfeldbau. In den Reservaten bestand und besteht aufgrund der beengten und beschränkten Verhältnisse keine Möglichkeit, nach diesen Traditionen für Nahrung zu sorgen. Das Wissen über traditionellen Anbau geht verloren
. Der Unterhalt wird daher wenn möglich außerhalb erwirtschaftet.

Seit den 1980er Jahren arbeiten Männer unter sklavenähnlichen Bedingungen auf Zuckerrohrplantagen und in Alkoholfabriken. Dazu verlassen sie ihre Familien für zwei bis drei Monate. Sie distanzieren sich so von kulturellen, sozialen, religiösen und politischen Tätigkeiten in den Aldeias. Andere arbeiten als Tagelöhner („Bóia–Fria“) auf nahe gelegenen Plantagen. Das Jahr 1993 wird als „das Jahr, in dem es die meisten versklavten Indios gibt“, bezeichnet.
Da die Löhne für die Arbeit nicht genügen oder die Indigenen nicht arbeiten können, sind sie auf Nahrungsmittelpakete der Regierung angewiesen. Da diese Nahrung nicht ausreicht, leiden die Guarani - Kaiowá an Unterernährung und die Kinder weisen Mangelerscheinungen auf.
Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose sind weit verbreitet. Die gesundheitliche Versorgung und die hygienischen Verhältnisse sind prekär, der Zugang zu rechtzeitiger medizinischer Versorgung kaum gewährleistet.


Aus eigenen Erfahrungen der Autorin ist die mangelnde Wasserversorgung in erreichbarer Nähe der Aldeias zu nennen: die Indigenen wurden oft fernab von Flüssen angesiedelt, der Zugang zu Wasser wird den Indigenen verwehrt. Das Grundwasser ist tief, so dass Wasser über große Distanzen von Hand transportiert werden muss. Die staatlich angelegten Wasserversorgungsinstallationen funktionieren mangelhaft.

Selbsttötungen sind ein gravierendes Problem der Guarani - Kaiowá: so sind die Guarani - Kaiowá das Volk mit den meisten Fällen von Selbsttötungen in Brasilien seit den 1970er Jahren. Dies betrifft vor allem Indios mittleren Alters sowie Jugendliche. Gründe hierfür lassen sich kaum ausmachen: Grünberg sieht die allgemeine schlechte Lage als Ursache, welche in Stagnation und Destruktion umschlage. Der CIMI beobachtet gehäuft Fälle in Gebieten, in denen keine Aussicht auf Rückgewinnung des Landes der Vorfahren besteht und wo deshalb Hunger, Elend, Konflikte und Perspektivlosigkeit am größten sind.
Der Verlust der Religion und Kultur führte zu Orientierungs- und Führerlosigkeit und zu vermehrtem Suizid.

Als Hauptursache aller aufgeführten Gegebenheiten ist in der Literatur der Nichtbesitz des Bodens der Vorfahren aufgeführt
[41], worauf in Kapitel 2.3.1 und 2.3.2 näher eingegangen wird.

Kultur der Guarani – Kaiowá - Indigenen

Religion und Glaube

„Lange haben wir zu den göttlichen Wesen gebetet, damit wir weiter existieren können. Wenn wir nicht mehr auf der Erde leben, wer soll dann das Gleichgewicht zwischen der Erde und den Himmeln aufrecht erhalten? Die ganze Erde würde untergehen.“ (Indio Guarani - Kaiowá Karai Tino, Paraguay)

Die Guarani haben heute ein deutliches Gefühl der Einzigartigkeit, ihre Identität ist „ihre Art zu sein“. Diese äußert sich durch ihre Befindlichkeit, ihr System, ihre Gewohnheiten, ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Bräuche.

Schwierigkeiten bei der Beschreibung der Religion bestehen darin, dass die Guarani keine dogmatischen und definitiven Formulierungen ihres Glaubens kennen. Jeder einzelne Indio ist im Laufe seines Lebens Schöpfer seiner eigenen Mythologie, indem er inspirierende Worte empfängt und deutet.
Im Folgenden sollen grundlegende Überzeugungen der Guarani und wichtige Aspekte der Religion in Bezug auf Soziale Arbeit mit ihnen dargestellt werden.
Konstitutive Elemente der Religion sind die Reziprozität, die Bedeutung des Wortes im gesamten religiösen Erleben, das getanzte Gebet sowie der Mythos der Schöpfung und der Zerstörung der Welt als Fundament der Überzeugungen.
Die Reziprozität ist zwar ein auf der Religion begründeter Grundsatz, spielt aber im gesamten Beziehungsgefüge eine wichtige Rolle. Die Reziprozität bedeutet den gegenseitigen Austausch von Konsum- und Gebrauchsgütern und strebt eine ausgleichende Verteilung an. Die Verpflichtung zu geben und zu nehmen besteht für jeden Guarani, das Tauschen ist sozialer und religiöser Dialog. Das gesamte Wirtschaftssystem beruht auf dem Grundsatz des Austauschs, so dass keine Güter im Überfluss vorhanden sein können und einzelne nicht Not leiden müssen (außer die Gemeinschaft leidet im Gesamten Not).
Das Element des Wortes ist für den Guarani alles und alles ist Wort. Träume und inspirierende Worte sind wichtigste Elemente der Religion und des alltäglichen Lebens und können jederzeit von jedem Guarani empfangen werden. Sie werden geschickt von höheren göttlichen Vätern, welche „Unsere Väter“ sind.
Einzelne Indios können Berufungen zu bestimmten Aufgaben erhalten, sie werden mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Es gibt verschiedene Kategorien von Berufungen. Wichtig für Außenstehende ist die Kategorie der Kaziken – Schamanen („pa’í“): traditionell sind sie die Autoritätspersonen, die Rat geben und entscheidende Mittel und Entscheidungen für die Dorfgemeinschaft voraussehen. Sie sind religiöse und weltliche Führer, werden als „Vater“ oder als „Chef“  gesehen und sollen die Probleme des Dorfes lösen. 

Während der Militärdiktatur (1964-85) werden diese Kaziken durch von der FUNAI gewählte „Kapitäne“ ersetzt. Sie vertreten die Interessen des Staates, nicht das der Indigenen, verkaufen angeblich sogar das Land an Siedler und Großgrundbesitzer. Sie ersetzen bis heute den Kaziken, genießen aber nicht dessen Ansehen unter den Indigenen. Dennoch haben sie die Rolle des „Chefs“ inne, übernehmen die traditionellen Aufgaben. Es kommt so oft zu Unstimmigkeiten innerhalb der Dorfgemeinschaften. Die Kaziken nehmen heute die zweitwichtigste Position ein und beklagen den Verlust ihrer Autorität. Kapitäne und Kaziken als ranghöchste Indigene innerhalb der Dorfgemeinschaft sind somit Ansprechpersonen für Außenstehende, also auch für Soziale Arbeit Leistende.

Ebenso wichtig sind wandernde Schamanen („karaí“), welche lediglich religiöse Funktionen haben. Sie geben Anstöße zu Umsiedlungen und kriegerischen Aktionen.
Das getanzte Gebet ist ein weiteres konstitutives Element der Religion: Gesang und ritueller Tanz sind Mittel, um mit den „Vätern von oben“ in Verbindung zu treten oder zu ihnen zu gelangen. Gebete können zu jedem Anlass und zu jeder Zeit stattfinden. Alle existenziellen Krisen im Leben einer Person
und besondere Situationen werden vom Gebet begleitet.
Gebete finden einen festen Platz in den Fiestas (portugiesisch: „festa“
). Diese werden regelmäßig von den Dorfgemeinschaften organisiert. Tanz und Gebet, Speisen und Getränke sind wichtige Elemente der Fiestas. Es werden benachbarte Dorfgemeinschaften eingeladen.
Wichtig für Außenstehende ist der Umgang mit Einladungen: sie dürfen nicht abgelehnt werden. Einladungen müssen angenommen werden und erfordern Gegeneinladungen.

Fiestas sind Ort des zeremoniellen Lebens, sie vereinen die Gemeinschaft. Konsumprodukte werden gesegnet. Konflikte und Spannungen werden sichtbar und in direkter Konfrontation gelöst. Krisen der Guarani zeigen sich, wenn über lange Zeit keine Fiestas mehr gefeiert werden. Heute finden sie selten statt, ziehen weniger Menschen an, zumeist nur die Verwandten des religiösen Führers.

Weiteres konstitutives Element ist der Mythos von der Schaffung und Zerstörung der Erde. Wichtig für Außenstehende ist das Bild der Guarani vom Kosmos und vom Vorhandensein von Göttern:
Der Kosmos wird von Wesen mit göttlichem, geistigem und übernatürlichem Charakter bewohnt. Diese stehen in Beziehung zu klimatischen Phänomenen und zum Schicksal der Seelen nach dem Tod. Es gibt Besitzer der Elemente wie Wald, Tieren, Feldern und Wegen und ähnlichem: sie werden bei Bedarf angerufen. Bei Verletzung der Elemente steht dem Menschen eine Bestrafung bevor.

Die Vorstellung des Kosmos ist folgende: Die Erde ist eine kreisförmige Plattform mit den Eckpunkten Osten und Westen. Die Götter wohnen in verschiedenen Stockwerken über der Erde. In der Vorstellung der Guarani - Kaiowá  „gründete Unser Großer Urahn die Erde auf der Grundlage zweier gekreuzter Balken. Von diesem Zentrum aus erweiterte er sie bis zu den äußersten Grenzen. Dieselben Guarani halten die Region, die sie bewohnen für das „Zentrum der Erde““. Sie bezeichnen sich als „Bewohner des Volkes des Zentrums der Erde“. Die Bewahrung der Welt geschieht durch Singen und Beten und das Leben der Liturgie. Durch Unterlassen des Gebets wird die Zerstörung der Welt riskiert.

Mythos von der „Erde ohne Leid“

„… Das schlimmste Leid, das ihnen durch die Kolonialherrschaft angetan wurde, bestand darin, ihnen das Land wegzunehmen. Die Frage lautete: wohin gehen? Im Osten wie im Westen herrschte dieselbe Verwüstung, war derselbe Zaun. Die Erde, die weder verkauft noch ausgebeutet, die weder vergewaltigt noch zugebaut ist, gibt es nicht mehr. Genau dies war aber eine Idealvorstellung der „Erde ohne Leid“… Urwälder und Wälder verschwinden, alles wird zum Ackerland, das von den Weißen für ihre Rinderzucht beansprucht wird. Die ganze Erde hat sich in Leid verkehrt, das alles bedeckt…“ (Bartomeu Melià)

Allen indianischen Volksstämmen in Brasilien ist um 1500 gemeinsam, dass der besiedelte Boden eine göttliche Gabe an die Gemeinschaft darstellt. Das Naturrecht der Indios kennt kein Privateigentum: der Boden, den niemand erzeugen kann, gehört der Gruppe. Des Weiteren hat Boden eine spirituelle Dimension: er ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das Bindeglied zwischen den Generationen.
Warum und wie die Guarani ihr Territorium zur Besiedlung aussuchen, ist nicht geklärt. Das Land, welches sie bevorzugt besiedeln, liegt in einer feuchten Klimazone mit einer mittleren Temperatur um 20°C. Es liegt am Flussufer oder an Lagunen in bewaldetem Gebiet (Urwälder), welches nicht über 400 Meter über dem Meeresspiegel ist.

Aber die „Erde ohne Leid“ ist nicht ausschließlich ökologisch definiert. Sie schließt auch das Wirtschaftliche, das Soziale und das Politische mit ein und hat eine mystische Bedeutung:
Melià erklärt: Das besiedelte Territorium ist für die Guarani „…ein „Tekohá“, ein Ort, den wir betreten und wo wir sind, das was wir sind… Wenn ein Guarani vom Land spricht, bezieht er sich immer auf seine eigene Art zu sein.“
Der „Tekohá“ ist „…der Ort, sagen die Guarani, an dem wir nach unseren Gebräuchen leben.“ Das bedeutet, dass das Land den Indigenen ihre Identität gibt. Ohne Land sind die Guarani – Kaiowá identitätslos. So kommt auch Grünberg zu ihrer Aussage, „Indianer zusammenzupferchen oder überhaupt ohne Landrechte leben zu lassen, ist Völkermord.“

.

Die Guarani streben nach einer „Erde ohne Leid“ und nach der „Vollkommenheit der Menschen“. Eines ist mit dem anderen verbunden. Die „Erde ohne Leid“ ist eine Welt, in der alle Menschen frei sind, ist Raum der gegenseitigen Liebe und Reziprozität. Sie ist im Diesseits erreichbar – Aufgabe der Guarani - Kaiowá ist es, diese „Erde ohne Leid“ zu finden und anzustreben.

Sprache

„Wir lernen Portugiesisch. Ich möchte aus mehreren Gründen Portugiesisch lernen, die Sprache der Brasilianer: Um zu verstehen, was die Weißen in ihren Versammlungen sprechen, um meine Verwandten vor den Eroberern zu schützen. Ich möchte den Weißen sagen können, dass sie unser Land und unsere Kultur respektieren sollen.“ (Tafelanschrieb von Paolo Yanomami da Maloca Hawaripixapoëuthexi, indianischer Lehrer)

Tupí-Guarani als Sprache und Kultur entstammt dem ältesten Tupí - Stamm, welcher vor ungefähr 3000 Jahren seine spezifischen Eigenarten ausbildete [67]. Durch Migration einzelner Untergruppen entstehen diverse Dialekte und Subkulturen, so auch das Guarani der Guarani – Kaiowá.
Eigene Erfahrungen der Autorin sind: die Indios sprechen untereinander in Guarani.
In Aldeias nahe von Städten sprechen fast alle Generationen der Indios Portugiesisch und Guarani. Die älteren Generationen haben mit dem Portugiesischen Schwierigkeiten. Die jüngeren verlieren zunehmend die Kenntnisse des Guarani.
In Aldeias, die fernab der Städte liegen und wo somit wenig Kontakt zu Weißen besteht, lernen Kinder erst beim Besuch der staatlichen Schule ab dem sechsten Lebensjahr die portugiesische Sprache kennen.

Insgesamt ist Guarani die Sprache der Indios. Allerdings geht das Wissen über die Schriftsprache nach und nach verloren durch das Lehren des Portugiesischen.

Gruppenleben, Rollenverteilung und Ernährung

Traditionellerweise ist Kern der Gesellschaft die Großfamilie, welche aus einem „Chef“ (in der Regel der Älteste), dessen Frau und Verwandten, seinen Söhnen und Töchtern, Schwiegerkindern und Enkelkindern besteht. Sie lebten in großen Hütten mit bis zu einhundert Personen. Sie wohnen in Gemeinden zusammen, welche nach einigen Jahren weiter ziehen, wenn die Gegend von Jagd und Ackerbau ausgeschöpft ist. Aus familiären Beziehungen ergeben sich politische Bündnisse. Heute sind die Familien geteilt, die Indigenen leben in kleinen Hütten mit wenigen Personen zusammen.
Die Guarani - Kaiowá pflegen das Prinzip der Reziprozität. Güter werden gleichmäßig umverteilt. Heute stören Prinzipien der kapitalistischen Gesellschaft diese Reziprozität.
Grünberg bezeichnet das „…soziale und kulturelle Klima der Guarani ganz allgemein … gestört“
.
Zur Zeit der Ankunft der Europäer bauen die Indios der Tupi, also auch die Guarani, Mais und Maniok an, allerdings ist dies Nebensache und Aufgabe der Frauen. Des Weiteren spinnen diese Baumwolle, fertigen Schmuck und Töpfergeschirr. Die Männer bauen Hütten und Kähne und sind hauptsächlich mit Jagd und Fischfang zugegen. Heute werden diese traditionellen Arbeitsteilungen nicht mehr so strikt eingehalten.

Wichtige Entscheidungen werden von der ganzen Gemeinde getroffen, also auch und in besonderer Weise von den Frauen. Diese haben eine traditionell starke, unabhängige Stellung innerhalb der Gemeinschaft. Frauen- und Männerarbeit ist gleich viel wert.
Der Prozess einer politischen Entscheidung ist langwierig: während der alltäglichen Arbeit besprechen die Frauen alle Geschehnisse im Dorf, oftmals politischer Natur, aber auch private Zwistigkeiten. Die Ergebnisse dieser Besprechungen geben sie ihren Männern zu Hause weiter und diskutieren sie innerhalb der Familie. Bei informellen Versammlungen der Dorfgemeinschaft diskutieren die Männer im Beisein der Frauen – diese verhalten sich nun eher ruhig – die Geschehnisse und Fragen. Sie vertreten dabei allerdings in der Regel die Meinung, die sie zuvor mit ihren Frauen abgesprochen haben. Bei wichtigen Entscheidungen werden Personen aus anderen Dörfern und Gemeinden um Rat gebeten. Diese Diskussionen können sich über Wochen und Monate hinziehen. Sobald der politische Führer einer Dorfgemeinschaft erkennt, dass sich eine einheitliche Meinung im Dorf gebildet hat, beruft er eine offizielle Versammlung, in der ausgewählte Personen in festlichen, mit aus der Mythologie stammenden passenden Erzählungen, ihre Meinung kundtun. Die Stimmung ist in der Regel ausgelassen, Witze und Smalltalk werden durchzogen mit mythologischen Versen. Zuletzt spricht der politische Führer, die Entscheidung ist offiziell und gilt für die Dorfgemeinschaft. Kommen Entscheidungen auf diese Weise zustande, halten sich die Indios (normalerweise) daran. Überstürzte, von Autoritäten aufgezwungene Entscheidungen, werden nicht akzeptiert.

Abkürzungen und Glossar:

Aldeia: Dorf der Indigenen 

CIMI: Conselho Indigenista Missionário; Indigener Missionsrat der Brasilianischen Bischofskonferenz; gegründet 1972; Sitz in Brasília.

FUNAI: Fundação Nacional do Índio; staatliche Indigenenschutzbehörde; gegründet1971; Sitz in Brasília

FUNASA: Fundação Nacional da saúde; Nationale Gesundheitsorganisation

PT: Partido dos Trabalhadores; Arbeiterpartei; entstanden Ende der 70er, basisdemokratisch ausgerichtet, erfahren im Kampf gegen die Militärdiktatur

SPI: Serviço de Proteção aos Índios, Vorläufer der FUNAI; gegründet 1910

Tekohá: Territorium der Guarani – Kaiowá. „Tekó“ ist „die Seinsweise“, „die Kultur“, „das Gesetz“, „die Gewohnheiten“, somit ist „Tekohá“ der Ort und das Medium, in dem sich die Bedingungen der Möglichkeit der Seinsweise der Guarani ergeben. (Meliá: In Schreijäck (Hrsg.) 1992)


Quellen:

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[11]
Ferreira 2002:  149 in Paraguay nennen sich die Kaiowá „Paĩ Tavyterã“
[12]
das sind: Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná, São Paulo, Rio de Janeiro, Espírito Santo, Mato Grosso do Sul
[13]
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das sind: Empfängnis, Geburt, Namensgebung, Initiation, Vater- und Mutterschaft, Berufung zum Schamanen,
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das können sein: Jagd, Wandern, Krankheiten u.ä.
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Anmerkung der Autorin
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Melià In: Schreijäck (Hrsg.) 1992: 239ff
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in der Literatur finden sich auch Aussagen, die „Erde ohne Leid“ läge in einer anderen Himmelsebene. Vgl. Grünberg 1995: 20ff
[65]
Melià In: Schreijäck (Hrsg.) 1992:  258ff
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Weitere Literatur:

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Bröckelmann – Simon, Martin: Landlose in Brasilien – Entstehungsbedingungen, Dynamik, Demokratisierungspotential der brasilianischen Landlosenbewegung. Mettingen 1994. 

Buss, Hero: Brasilien. Hiebe zum Festakt – Zur Feier der Entdeckung des Landes vor 500 Jahren zeigt die Regierung ihre Macht gegenüber der Urbevölkerung. In: FOCUS 18/ 2000.

CIMI (Conselho Indigenista Missionário) / Regional Mato Grosso do Sul: Conflitos de Direitos sobre as Terras Guarani Kaiowá no Estado do Mato Grosso do Sul. São Paulo 2001.

CIMI (1) (Conselho Indigenista Missionário): Outros 500 – Construindo uma nova história. São Paulo 2001.

Faber, Gustav (Hrsg.): Handelmann, Heinrich: Geschichte von Brasilien. Zürich 1987.

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Kaiová von zurückgewonnenem Gebiet gewaltsam vertrieben: www.wald.org/cimi/cimid483.htm [08.07.2002].

Seminar über das Landkonzept der Guarani / Landkauf: www.wald.org/cimi/2001/cimid479.htm [30.07.2003].

Rosá, Alido: Konzeption und Projekte der Indiopastoral Dourados (unveröffentlichte Aufzeichnungen). Iguatemi / Brasilien 1998.

Schreijäck, Thomas (Hrsg.): Die indianischen Gesichter Gottes. Frankfurt a.M. 1992