Die einem Einzelnen zugefügte Ungerechtigkeit ist eine Bedrohung für uns alle

 

 


Frei Alido Rosa ofm und die Indianer im Bundesstaat Mato Grosso do Sul
Johannes Ghiraldin, 2002

Nicht nur das Land ist überlebensnotwendig für Brasiliens Indianer, sondern auch ihre Kultur. Gerade darum geht es in den Projekten Frei Alidos. Die Indios wollen ihr Land zurück, das ihnen von den Großgrundbesitzern in der Vergangenheit geraubt und ausgebeutet wurde. Zum Teil dient es als Weideland für die großen Rinderherden der Fazendeiros, die irgendwo weit weg in ihren Luxuswohnungen in der Stadt leben und das Land von Verwaltern überwachen lassen, Die Indianerstämme wurden vertrieben und irren entweder als Landlose in den riesigen, fast menschenleeren Gebieten des brasilianischen Südwestens umher, oder sie wurden von der Provinzverwaltung in Reservate zusammengepfercht, wo sie ein kümmerliches Dasein fristen. 

Wenn sie ihr ehemaliges Land "widerrechtlich" besetzen und darauf hinweisen wollen, dass das eigentlich ihr Land ist, werden sie durch sogenannte "Pistoleros" vertrieben, die vor Morden nicht zurückschrecken (daher ihre Bezeichnung). Diese Pistoleros stehen im Dienst der Großgrundbesitzer und ihrer Verwalter und werden auch von diesen bezahlt. Solche Morde werden von der Justiz im Allgemeinen nicht geahndet, sodass die Indios nicht nur "Sem Terras", "Sem Tetas", sondern auch "Sem Direitos" sind (= Landlose, Obdachlose, Rechtlose).

Auf Grund des wachsenden Drucks von Menschenrechtsorganisationen im Ausland, aber - gottsei- dank - auch in wachsendem Ausmaß in Brasilien selbst, gelingt es inzwischen immer mehr Indiostämmen, sich ihr Land wieder zurückzuholen. Dabei spielt die CIMI eine große Rolle, die Indianerbehörde 'der katholischen Kirche Brasiliens. Über sie werden gute Rechtsanwälte bezahlt, die den Indios helfen, vor den Gerichten ihre Ländereien wieder zu erkämpfen, sodass sie schließlich einen Eintrag ins Grundbuch und eine staatliche Besitzurkunde für ihre Ländereien in den Händen halten, die ihnen niemand mehr streitig machen kann.

An diesem Punkt setzt nun die Hauptarbeit Frei Alido Rosas an, der eng mit der CIMI und der Diözese Dourados (der ehemaligen Diözese des verstorbenen Bischofs Theodard Leitz aus der Erzdiözese Freiburg) kooperiert und in ihrem Auftrag wirkt. Er ist Franziskaner, und inzwischen sind es zwölf Jahre, dass er diese wirkliche "Graswurzelarbeit" tut. Aber lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: "Ich spüre, was unsere Bischöfe meinen, wenn sie sagen: Wir werden den Indios nicht unsere Katechese, unsere Gebete und unsere Feiern bringen; sie müssen zuerst einmal sehen, was sie selbst haben, wieder ihre Rituale kennenlernen, ihre Mythen, ihre Kaziken (Medizinmänner, Indiopriester), und danach werden wir sehen...“

Fünfhundert Jahre lang war die Geschichte immer die Gleiche: Man wollte den Indio in unsere Kultur einbinden. Das bedeutete, dass er alles zu vergessen hatte, was ihm gehörte, und dass er alles annehmen sollte, was wir ihm an Europäischem verrüttelten, So kam es, dass die einen den Indios die Ländereien mit den Bäumen, Vögeln und den anderen Tieren wegnahmen, man nahm ihnen die Flüsse mit ihrem Wasser und den Fischen. Andere raubten ihnen die Sprache, die Bräuche und ihre Feste. Die Missionare nahmen ihnen die Mythen, die Riten und ihre Priester. Durch diese Politik entstand ein anderer Indio, der eigentlich nicht mehr Indio ist und der auch kein Weißer ist. Er ist seiner Identität beraubt. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Selbstmorde unter den Indios außergewöhnlich angestiegen. 

Studien bestätigen, dass das Hauptmotiv in der Loslösung von ihrer Religion besteht. Deswegen haben wir die Schlussfolgerung gezogen: Es ist besser, wenn sich tausend Indios wieder an ihrer Religion festklammern, als dass sich ein Indio am Baum aufhängt. Konkret heißt das: „Ich habe angefangen, mich mit den betenden Indios zu versammeln, mit ihnen Erfahrungen auszutauschen, damit alle von ihnen die alten Traditionen kennenlernen. Ich habe die Kaziken von einem Dorf zum anderen gebracht, dorthin, wo man vielleicht schon lange keinen eigenen Indio-Priester mehr hatte, der die Medizinpflanzen kannte, der die Kinder heilen und die Mütter segnen konnte. So arbeiten wir bis heute miteinander. Wir haben 23 traditionelle Gebetshäuser - Hoga Pisys - gebaut. Wir sind immer bei ihnen, wenn sie ihre Feste feiern." Soweit der Bericht von Frei Alido.

Und die Reaktion der Indios? "Dieser Pater hat Recht. Er kennt unsere Vergangenheit. Er kommt nicht mit der Bibel der Gläubigen, und er baut auch keine Kirche der Katholiken. Das gefällt uns. Früher wohnten wir eng beieinander, die Erde gehörte uns. Wir hatten unseren Kaziken. Er betete, und seine Medizin aus den Pflanzen heilte uns. Gott wohnte nahe bei den Menschen. Doch dann kamen die Weißen und haben uns unsere Ländereien und unsere Kultur weggenommen. Heute ist Gott nicht mehr hier, denn er ist traurig über diese Situation..."

Für die Arbeit Frei Alidos bedeutet das, dass er den Indios zunächst einmal bei der Stillung ihrer elementarsten Bedürfnisse helfen muss. Sie haben zwar Land bekommen, aber wissen zunächst nichts damit anzufangen. Sie leiden oft bitteren Hunger, und deshalb besteht die "Erste Hilfe" in der Versorgung mit Nahrungsmitteln - Reis, Bohnen, Fleisch, Gemüse, Obst... 

Der wichtigste Schritt folgt dann als Nächstes: Die Indios waren bisher Jäger und Sammler, aber keine Ackerbauern und Viehzüchter. Daher müssen sie lernen, sich auf die neuen Verhältnisse umzustellen: Sie müssen das Land urbar machen. Das "Knowhow" dazu zeigt ihnen Pater Alido. Er lehrt sie, Gärten anzulegen und Gemüse zu pflanzen. Obstbäume (Bananen, Papayas, Zitrusfrüchte aller Art) müssen gesetzt werden. Felder mit Maniokpflanzungen (eine stärkehaltige Knolle), sowie Mais und anderem Getreide müssen bestellt werden. Rinder, Schweine, Geflügel werden gezüchtet...

Eines der Hauptprobleme ist die Wasserversorgung. Bis vor wenigen Monaten hat Alido vielen Indiofamilien geholfen, Brunnen zu bohren - Schächte, die bis zu 20 m tief in die Erde getrieben werden mussten, bis man auf Grundwasser stieß, Leider sind solche Brunnen nach kurzer Zeit wieder versiegt, weil der Grundwasserspiegel weiter absinkt, verursacht durch die jahrzehntelange Abholzung des ursprünglichen Regenwaldes ("Mato Grosso" heißt "dichter Wald"!). Inzwischen führt Frei Alido Verhandlungen mit den Gemeinden (Iguatenü, Amambai, Tacurü, Ponta Pora ... ), um Wasserleitungen in die Siedlungsgebiete (Aldeias) der Indios legen zu lassen, z.T. mit gutem Erfolg. Ich selber konnte Zeuge zahlreicher Versammlungen der einzelnen Indiostämme mit den Bürgermeistern der betreffenden Gemeinden sein, bei denen es um den Bau solcher Wasserleitungen ging. Frei Alido hatte diese Versammlungen initiiert und organisiert. Bei allen diesen Versammlungen ging es auch darum, die Identität der Indios und den Zusammenhalt, die Solidarität der Indios untereinander, zu stärken. Sie sollten, wenn sie eine Wasserleitung haben wollten, selbstverständlich beim Bau und bei der Finanzierung mithelfen, auch wenn es nur ein symbolischer Betrag aus den Erlösen von Maniokverkauf oder Rinder- und Schweinezucht war. "Indios helfen Indios! " ist ein Wahlspruch Frei Alidos.

Ein anderes großes Problem ist die Bildung. Vor vier Jahren war ich mit einer Gruppe ehemaliger Schülerinnen und Schüler auf Besuch bei Frei Alido. Da hat er uns gebeten, beim staatlichen Schulamt in Amambai vorzusprechen, um die Wichtigkeit von Schulen für die Indios zu betonen, die in ihrer Sprache, Guarani, unterrichten. Heute - so konnte ich beobachten - haben die Gemeinden Schulen in den Indiosiedlungen (Aldeias) errichtet, in denen die Kinder in ihrer Muttersprache lernen können. Das Portugiesisch wird als erste Fremdsprache von der ersten Klasse an gelehrt. Ein sehr erfreulicher Fortschritt!

 Auch die übrige Arbeit Alidos hat Früchte getragen: Wo man hinkommt, sind Gärten angelegt, Frauengruppen scharen sich um Nähmaschinen, die ihnen Alido besorgt hat, um zu lernen, wie man aus Stoffresten Decken und Kleidung näht und diese dann gewinnbringend verkauft. Viele Kühe, Schweine, Ziegen und Rinder leben in den Aldeias, und manche Indios haben es inzwischen sogar zu einem kleinen Wohlstand gebracht, wie z.B. Silvia, die als 14-jähriges Mädchen einen Garten angelegt hat, der inzwischen dreimal so groß ist wie vor zwei Jahren, als ich ihn zum letzten Mal sah. Die Produkte verkauft Silvia in den unliegenden Aldeias und verdient sich dadurch einen schönen Lebensunterhalt.

Bei seiner Arbeit mit den Indios helfen Frei Alido zwei Schwestern aus der Franziskanerinnen-Kongregation von Dillingen, Schwester Celina und Schwester Elza. Sie betreuen die Aldeias bei der

Stadt Amambai und sorgen dafür, dass vor allem die Frauen lernen, einen guten Haushalt zu führen: Deshalb bringen sie ihnen das Nähen und andere Handarbeiten bei, sie helfen ihnen kochen, geben ihnen Ratschläge in der Hygiene usw. Was aber das wichtigste an ihrer Arbeit ist: Der menschliche Kontakt zu den Indios, die dankbar sind für jede persönliche Zuwendung. Dadurch gelingt es auch den Schwestern, Widerstände zu überwinden bei Dingen, die den Indios fremd sind. Insofern ist diese Arbeit der Schwestern unentbehrlich auch für den Erfolg der Bemühungen Frei Alidos! 

Eine ganze Reihe von Helfern aus Deutschland (Michael, Tamara, Marco, mein Neffe Konrad) haben Frei Alido bei seiner Arbeit geholfen, und er ist dankbar für jede Anregung. Außerdem konnte er viele Helferinnen und Helfer aus Brasilien für seine Arbeit gewinnen. Inzwischen hat er in Iguatemi ein kleines Informationszentrum errichtet, wo er sich regelmäßig mit seinen Helfern oder den maßgeblichen Leuten aus den Indiosiedlungen trifft, um die weitere Arbeit mit ihnen zu besprechen und den Zusammenhalt unter ihnen zu stärken, Insgesamt gesehen ein schöner und befriedigender Erfolg seiner Arbeit!

Leider gibt es auch Schattenseiten: Viele Indios verdienen nach wie vor ihr Geld in Alkoholdestillerien weit weg, in der Nähe von Sao Paulo. Sie werden von den Betriebsbesitzern angeworben, für mehrere Monate dort zu arbeiten. Sie schließen Arbeitsverträge und werden mit Lastwagen in ihren Aldeias abgeholt und nach Ablauf der vereinbarten Zeit wieder zu Hause abgeliefert. Das bedeutet, dass sie nur in größeren Intervallen in ihre angestammten Aldeias zurückkehren können. Meist sind dann die Alkoholprobleme sehr groß, und das bedeutet einen Leidensweg für die Frauen und Kinder, die in der Zwischenzeit die Hauptlast der Arbeit zu Hause tragen müssen. Zudem erschwert der Kampf mit der Bürokratie der Behörden oft unnötig die Arbeit von Frei Alido. Insgesamt gesehen jedoch darf er sich der großen Dankbarkeit der Indios sicher sein, und auch wir werden bei jedem Besuch große Dankbarkeitsbezeugungen der Indios zuteil. Sie wissen, was sie an der finanziellen Starthilfe aus Deutschland haben.

Das Kinderhaus VIVA VIDA von Sonja

Ein weiteres kleines Projekt in Amambai. Sonja, eine italienisch-stämmige Brasilianerin, hat in Amambai ein Kinderhaus gegründet, das kostenlos halbverhungerte und verwahrloste Kinder - Indios und Straßenkinder - aufnimmt, ernährt, kleidet und pflegt. Inzwischen ist daraus ein piksauberes, gut geführtes Haus geworden, das 45 Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter eine wirkliche Heimat bietet. Ein großer Mitarbeiterstab von Erzieherinnen und Helferinnen für die Arbeit im Haus und in der Küche steht ihr zur Verfügung, außerdem werden für ältere Kinder Schul- und Arbeitshilfen gegeben.