Aufbruch – Wohin?
Erfahrungsbericht über eine Reise nach Afghanistan
Rebecca Schmid (Kameraassistenz / Komentarstimme)
Afghanistan im Mai 2005. Ein Vormittag in der Provinz Herat. In
Scharen machen sich Mädchen auf den Weg zur Schule. Mit flinken
Schritten schieben sie sich durch die staubigen Gassen des Dorfes
Gozargah. Wie einen Schatz umklammern sie ihre Schultaschen, die
zumeist nicht mehr als ein Stück Papier und einen Bleistift
enthalten. Sie versammeln sich um einen kleinen Brunnen im Schulhof
und trinken hastig aus ihren Händen. Der Tag wird heiß werden.
In Sichtweite des Schulgeländes ein kleiner Trupp Männer, deren
Anspannung unter den blauen Uniformen nur zu erahnen ist. Sie gehen
einer hochbezahlten, aber auch hochgefährlichen Arbeit nach und räumen
die Felder von Minen. Auch das gehört zum Alltag in Afghanistan,
einem Land, dessen Geschichte nur wenige friedliche Phasen kennt.
Afghanistan ist ein Land, das stets umkämpft und von gewaltsamen
Auseinandersetzungen bestimmt war. Heute, nach mehr als 20 Jahren
Krieg und Bürgerkrieg, in denen das Land von jeglicher Entwicklung
abgeschnitten war, zählt Afghanistan zu den ärmsten Ländern der
Welt. Noch immer, gut vier Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes,
das das Land einem extremen Fundamentalismus unterwarf, leidet
Afghanistan unter den Folgen. Die langen Kriegsjahre, Zerstörung und
Millionen von Flüchtlingen haben in Afghanistan eine desolate
Bildungsinfrastruktur hinterlassen.
Doch der Hunger nach Bildung ist groß, denn der Zusammenbruch des
Taliban-Regimes ermöglichte afghanischen Jungen und Mädchen
vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben eine Ausbildung. Sie gehen
gerne zur Schule, und ihre Träume und Hoffnungen sind überall
dieselben: so möchten die dreizehnjährige Shirin und ihre Freundin
Rahimi Ärztinnen werden um den Menschen in ihrem Land zu helfen. Für
Siba, die die 5. Klasse besucht, steht fest, dass sie Ingenieurin
werden möchte, um den Aufbau ihres Landes voranzutreiben. Und Parizad,
die vormittags die Schule besucht und nachmittags die Ziegenherden auf
die Weiden treibt, träumt davon, irgendwann einmal nicht mehr den
Ziegen hinterherlaufen zu müssen: sie möchte Lehrerin werden. Wie
sich die Hoffnungen ähneln, so gleichen sich die Begrüßungslieder,
die von Krieg handeln und doch immer mit einer friedlichen Zukunft
schließen. Was bleibt, sind gemischte Gefühle. Es liegt eine
Aufbruchstimmung in der Luft, doch die Frage wo es hingehen soll,
bleibt unbeantwortet.
Obwohl das Land inzwischen von den Taliban weitgehend befreit ist und
Mädchen wieder unterrichtet werden, haben viele Schulen von der neuen
Zeit nur wenig profitiert.
Die Grundschule in Gozargah, einem Dorf, das nur 3 km außerhalb der
Stadt Herat liegt, gehört zu jenen Vergessenen. Hier werden über
1000 Schülerinnen und Schüler von 15 engagierten Lehrerinnen
unterrichtet. Die Kinder kommen in drei Schichten zur Schule, Mädchen
und Jungen getrennt, und dennoch platzt die Schule aus allen Nähten
– und das im wörtlichen Sinne, denn die Zelte, in denen der
Unterricht stattfindet, müssen täglich vom selbst ernannten
Zeltflicker neu zusammengenäht werden. Bis zu 80 Schüler oder Schülerinnen
drängen sich unter den Zelten dicht aneinander, reiben sich den
aufgewirbelten Staub aus den Augen und trotzen Wind und Wetter. Wenn
die Temperaturen im Sommer auf über 40 Grad ansteigen, wird das
Klassenzimmer zu einem Brutkessel, während im Winter jegliches
Unterrichten unmöglich wird. „Würden eure Eltern euch hier gerne
zur Schule schicken?“ fragt Abdullah, der Schulleiter, und macht
damit seinem Unmut Luft. Er vergleicht die Bildung mit einem Haus:
„Wenn wir auf schlechtem Fundament aufbauen, wird das Haus nicht gut
und sicher sein. Es wird schnell kaputt gehen“. Aicha, Lehrerin in
Gozargah und Mutter von 10 Kindern, ist jedoch froh, ihre Tochter
Rahimi nun wieder zur Schule schicken zu können. Während der
Taliban-Zeit unterrichtete sie unter Androhung von Bestrafung und
Folter die meisten Mädchen der Nachbarschaft heimlich im Keller ihres
kleinen Hauses. Heute setzt sie sich für die Mädchen ein, deren Väter
und Brüder ihnen den Schulbesuch verweigern. Doch am meisten bedauert
sie die schlechte Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, die selbst
oft nur die ersten Schulklassen besuchen konnten. Sie hofft, dass
viele ihrer Schülerinnen und Schüler Lehrer werden, denn
“Afghanistan braucht sie für die Zukunft“. Und so verfolgen
Rahimi und Shirin aufmerksam jede ihrer Gesten, wenn sie anhand einer
Zeichnung aus einem Schulbuch von 1979 die Verdauung des menschlichen
Organismus erklärt, um ihrem Traum Ärztinnen zu werden, einen
Schritt näher zu kommen. Aicha schließt den Unterricht mit einem
scheuen Blick in unsere Richtung: „Die Zukunft Afghanistans gehört
den Kindern“, ein flüchtiges Lächeln, ein kurzes Aufblitzen von
Hoffnung, bevor sie sich weiterer forschender Nähe entzieht und
hinter dem blauen Gesichtsgitter ihres Ganzkörperschleiers, der Burka,
verschwindet. Aus anonymem Mund ohne Gesicht erklingt im Vorübergehen
ein letztes „Good bye, thank you“. Sie berührt meine Hand, und
getragen von der plötzlichen Nähe zu der blauverhangenen Schwester
glaubt man doch tatsächlich an die heilende Macht der Menschenliebe.
Es ist Nachmittag. Noch immer durchpflügen die Minensucher die
Felder. Nebenan hat sich die zweite Schicht vor dem Brunnen
versammelt. Wenn sich gleich die Jungen in der Mittagshitze unter den
Zelten zusammenfinden, gehen die Mädchen längst ihren häuslichen
Pflichten nach.
„Die Zukunft Afghanistans gehört den Kindern“ – Aichas Worte
klingen noch lange nach.
"Eines Tages wird Afghanistan genauso entwickelt sein wie andere
Nationen. Eines Tages wird Afghanistan einer anderen Welt in dieser
Welt dienen und helfen. Eines Tages wird Afghanistan nicht mehr selbst
auf Hilfe angewiesen sein“. Man möchte ihr gerne glauben.
|