Die einem Einzelnen zugefügte Ungerechtigkeit ist eine Bedrohung für uns alle

 

 


Das Indigene Projekt in Mato Grosso do Sul
Marco Keller, Mai 2000

In dem von unserer Band Increase unterstützten Hilfsprojekt, bot sich mir die Möglichkeit an, im Zeitraum vom 1.Januar bis 25. März 2000, weitere Erfahrungen für meinen zukünftigen Beruf zu sammeln. Es handelte sich dabei um ein Projekt der brasilianischen Organisation CIMI. Im folgenden möchte ich dieses Projekt und meine Tätigkeit während dieser 3 Monate beschreiben.

1 Geschichtlicher Hintergrund und aktuelle Situation:

Das Indio-Projekt, geleitet von der katholischen Organisation CIMI (Conselho Indigenista Missionario) in Campo Grande, versucht Indios wieder auf ihrem angestammten Land anzusiedeln. Um die Jahrtausendwende wurden die Indios in neu errichtete Industrien in die Großstädten gelockt. Für einen Hungerlohn wurden sie dort als billige Arbeitskraft ohne Rechte ausgenutzt. Viele dieser Industrien gingen jedoch schon bald wieder zugrunde. Während dieser Zeit kauften Großgrundbesitzer (Fazenderos) vom brasilianischen Staat das Land, für das die Indios keine Besitzurkunde hatten, holzten es ab und bewirtschafteten es.

Heute müssen diese Großbauern den Indios jenen Boden wieder zurückgeben, aber mittlerweile ist er ausgebeutet. Die Indios haben keine andere Wahl, als dieses Land zurückzunehmen und sind gezwungen sich in ihrer Lebensweise vollkommen umzustellen: aus Jägern, Sammlern und Fischern werden plötzlich Händler, Handwerker und Bauern. Sie müssen völlig ungewohnte Tätigkeiten verrichten: Maniok pflanzen, Kleintiere (Hühner, Schweine, Ziegen) aber auch Kühe züchten, mit Nähmaschinen nähen und lernen zu Wirtschaften.

Sie benötigen Brunnen, um an Trinkwasser zu gelangen. Durch die Ausnutzung und Abholzung des Landes ist jedoch das Grundwasser sehr stark abgesunken, so dass man sehr tief graben muss, um auf Wasser zu stoßen. Man ist auf Pferde und Pferdewagen angewiesen, um mobil zu sein; braucht Holz zum Kochen, zum Bauen der Häuser, aber auch zum Heizen im Winter. Die Indiokinder benötigen Schulen, deren Lehrpläne auf ihre Lebensweise abgestimmt sind, aber auch das brasilianische Schulwesen berücksichtigen. Kaiowa-Kirchen müssen wieder aufgebaut werden, um den Indios auch kulturellen Rückhalt geben zu können.

2 Die CIMI (Conselho Indigenista Missionario):

Die CIMI ist eine unabhängige katholische Organisation, die sich in ganz Brasilien für die Rechte der Indios einsetzt. Sie unterstützt die Indios bei der Schaffung einer neuen Lebensgrundlage und hilft zudem in Notsituationen mit Kleidung, Nahrung, Holz, Solarkochern, Nähmaschinen und Brunnen aus. 

Sie kämpft dafür, dass die Indios ihr Land, das von Fazenderos (Grossbauern) eingenommen wurde, wieder zurückbekommen, damit sie es bewirtschaften und bewohnen können. Die CIMI baut Schulen und bildet Indiolehrer aus. Des weiteren entwickelt sie mit den Indios neue Arbeitspraktiken und Beschäftigungstherapien, betreut Kindergruppen und hilft, landwirtschaftliche Wirtschaftsmodelle in die Tat umzusetzen.

Z
iel der CIMI ist es, den Indios unter Berücksichtigung deren Kultur, zu mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu verhelfen. Wirtschaftsmodelle und pädagogische Maßnahmen kommen dabei verstärkt zum Einsatz. Da die zuständige Diözese Dourados zu den ärmsten in Brasilien zählt und nur einen geringen Teil der Kosten übernehmen kann, wird die Arbeit der CIMI hauptsächlich durch europäische Spenden finanziert. Vor allem geistliche und privat engagierte Personen leisten in Europa viel Aufklärungsarbeit um die Finanzierung des Projektes zu gewährleisten. Aber auch die Missionszentrale in Bonn fördert jährlich die CIMI bei ihrer Arbeit.

3 Mein Einsatzgebiet:

Im Bundesstaat Mato Grosso do Sul arbeitete ich drei Monate in einem von vielen Indio-Projekten der CIMI mit. Das Land Mato Grosso do Sul ist sehr arm. Neben ein paar reichen Großbauern, die sich mit ihren unglaublich großen Landflächen diesen Staat teilen, gibt es viele Menschen aus der Unterschicht. Sie und die Indios versuchen, bei den Grossbauern oder in den kleinen Städten Arbeit zu finden. Vom Landschaftsbild her hatte ich immer das Gefühl, dass hier in diesem Staat die Rinder für die ganze Welt gezüchtet werden. Unzählige Weideflächen, besetzt mit noch mehr Rindern, waren die einzigen Bilder, die ich als typisches Merkmal dieses Landes registrieren konnte. Zudem fand sich hierin eine weitere Erklärung dafür, warum dieses Land heute so unfruchtbar und heruntergekommen ist.
Unsere Stadt, in der auch unsere Einrichtung angesiedelt war, hieß „Iguatemi“ und hatte ungefähr zehntausend Einwohner. Trotz der geringen Beschäftigungszahl von nur fünf hauptamtlichen Mitarbeitern waren wir insgesamt für 20 000 (!) Indios, die wiederum in 28 voneinander weit entfernten Indiogemeinden lebten, zuständig.


4 Reflexion:

Die erste Woche meines Aufenthalts war sehr schwierig für mich. Die Hitze in Brasilien machte mir sehr zu schaffen: Vom Winter in Deutschland direkt in den Hochsommer!

Die Straßen empfand ich als eine Katastrophe! Der Asphalt war überall aufgebrochen und tiefe Löcher zehrten das Straßenbild. Die Wege jenseits der Zivilisation, die wir meistens benutzten, um zu den Indios zu kommen, waren nicht einmal mehr asphaltiert. Rallyepisten, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, waren die einzige Verbindung dorthin.

Die Entfernungen, die wir mit dem Auto oder unserem LKW zurücklegen mussten, waren sehr groß und bewegten sich in einem Spielraum von 20-200 km. Die Anreise zögerte sich jedoch, bedingt durch die schlechten Straßenverhältnisse, immer unendlich hinaus. Anfangs fiel es mir sehr schwer, mich in die portugiesische Sprache einzufinden. Meinen Kollegen war es anfangs nur wichtig, mir sämtliche Projekte vorzustellen, mir den Sinn des Ganzen klarzumachen und meine vielen Fragen zu beantworten. Je mehr ich die Arbeit mit den Indios und die verschiedenen Projekte kennenlernte, um so mehr verstand ich deren Sinn und es weckte mein Interesse, selbst tätig zu werden, mitzuhelfen und mitzuarbeiten. Mein Anleiter, Frei Alido Rosa, konnte sehr gut deutsch, was mir natürlich eine große Hilfe war. Überhaupt war es erstaunlich, wie viele deutschsprachige Brasilianer es gab. Meine anderen beiden Mitarbeiter hatten sogar Eltern deutschsprachiger Abstammung und sprachen perfekt deutsch. Allerdings benutzten wir hauptsächlich die portugiesische Sprache zum kommunizieren, allein schon wegen der Arbeit mit den Indios. Mit Alido war ich Tag und Nacht unterwegs. 
Er fing an, mir die vielen Indio-Dörfer und Projekte zu zeigen. Wir besuchten indianischen Frauengruppen, machten mit ihnen Versammlungen, diskutierten, brachten ihnen Kleiderspenden, Nahrung, Stoff, Maniok-Samen, Kleintiere, Nähmaschinen,... Arbeitsmittel eben, aber auch Geld! Alido erklärte mir viel, so dass die Zusammenhänge und der Sinn unserer Arbeit mir immer klarer wurde.

Da viele Indiomänner ihre Familien verlassen haben oder weit ab für einen Hungerlohn in den Städten arbeiten beschäftigt sind, hatte man es sich zum Ziel gemacht, hauptsächlich mit den Frauen zu arbeiten; nicht zuletzt deswegen, weil sie sich auch für die vielen Indiokinder verantwortlich fühlen.

Das Vorgehen gestaltet sich hierbei folgendermaßen:

Ein Entwicklungshelfer besucht die verschiedenen Indio-Dörfer und erklärt den Indios sein Vorhaben. Danach werden den einzelnen Familien Besuch abgestattet. Ca. 50 % der Indiofrauen zeigen dabei starkes Interesse, in Kleingruppen von 7-8 Frauen mitzuarbeiten und etwas zum Gruppenwohl zu erwirtschaften. Ziel ist es dabei, die Gemeinschaft in der Gruppe zu stärken, nicht den einzelnen Indio. Deshalb wird alles Erwirtschaftete zum Gruppeneigentum erklärt oder gleichmäßig unter allen verteilt.

Unsere Aufgabe war es, die Indios durch Gespräche für diese Arbeit zu gewinnen,
sie anzulernen, ihnen die nötigen Maschinen und Arbeitsmaterialien bereitzustellen, damit sie danach selbständig arbeiten konnten. Um dem Ganzen einen Sinn zu geben, wurde, wie mit den Indios vereinbart, das durch diese Arbeitsgruppen erwirtschaftete Geld noch einmal um den gleichen Betrag erhöht. Hatte eine Gruppe z.B. 50 Real erwirtschaftet, wurde sie von uns durch weitere 50 unterstützt, was natürlich die Arbeitsmotivation
ungeheuer verstärkte.

Die Tätigkeiten der einzelnen Gruppen war sehr verschieden. Es gab Gruppen, die sich hauptsächlich für das Arbeiten mit der Nähmaschine interessierten. Sie nähten Stoffreste zusammen, produzierten daraus Kleidung oder Teppiche, die dann für den Verkauf bereitgestellt wurden. Andere Gruppen sortierten Kleiderspenden nach Schuhen, T-Shirts, Hosen, Röcke, Männer-, Frauen-, Kinder-, Babykleidung usw. Die sortierten Kleidungsstücke verkauften sie zu günstigen Preisen unter den Indios im eigenen Dorf.

Wiederum andere Indios pflanzten Maniok an, um ihn dann später zum Gruppenwohl in der Stadt zu veräußern. Mit dem erwirtschafteten Gruppengeld konnte sich die Gruppe nun überlegen, welche Anschaffung für sie am sinnvollsten wäre. Eine Kuh, ein Pferd, eine Pferdekarosse, eine Nähmaschine, Wasserleitungen, ... . Wir hatten zuvor eine Vereinbarung mit den Indiogruppen getroffen: 50 % bezahlen wir, die anderen 50 % müssen durch Gruppengelder finanziert werden. Dies  kam ihnen sehr entgegen, gab ihnen viel Anreiz, zu arbeiten; gab ihnen die Möglichkeit, Ziele auch wirklich zu erreichen. Und... es funktionierte! Man konnte den Unterschied sehen: Viele Indiogruppen hatten sich schon viel erwirtschaftet, hatten mehr “Wohlstand” und mehr “Reichtümer”. Andere Indios, die bisweilen desinteressiert an diesem Projekt waren, sahen diesen Wachstum und wollten nun vereinzelt auch in diesen Gruppen mitarbeiten beziehungsweise neue Gruppen bilden. Aber die Armut der Indios brachte es auch mit sich, daß wir ihnen überlebenswichtigen Grundversorgungsmittel zukommen ließen.

So war es auch unsere Aufgabe, die Ärmsten der Armen und jene, die weitab von jeglicher Zivilisation lebten, mit Kleidung, Holz, Nahrung, Samen sowie Pflanzen und Kleintieren zu versorgen. Zwei Wochen lang reisten wir so mit einem großen LKW, vollgepackt mit dem Nötigsten, von Dorf zu Dorf, sprachen mit den Indios, sorgten uns um sie und versuchten zu erkennen, was sie am dringendsten benötigen. Den ärmsten Dörfern fehlte es sogar noch an Brunnen, Schulen und der typischen Indio-Kirche, die zur Erhaltung der Kultur und zur Gemeinschaftsförderung wichtig ist. Wir stellten Pläne auf und leiteten alles Nötige in die Wege, damit die Indios bald mit dem Bau dieser Gebrauchsgüter beginnen konnten.

Ende Januar, durfte ich dann für 4 Tage einen Kurs zur Fortbildung von Indianerlehrern kennenlernen. Der Kurs, der von der CIMI geleitet wurde und sich über 6 Wochen hin zog, legte großen Wert darauf, das Schulniveau der Indios wesentlich anzuheben und dem brasilianischen Schulniveau anzugleichen. Wenn man bedenkt, das Brasilien das zweitschlechteste Schulwesen der Welt hat, ist das auch das mindeste, was man tun muß. Der Lehrplan für die Indioschulen sah vor, dass man die Indiokinder erst in ihrer Muttersprache Guarani und danach in portugiesisch lehren soll. Der Kurs legte zudem noch sehr viel Wert darauf, den Indiolehrern die nötigsten Wissenserkenntnisse und pädagogischen Grundlagen zu vermitteln. Viele Indiolehrer waren “nur” auf dem Niveau eines Hauptschul- oder Realschulabschlusses stehengeblieben.

5 Projekt Gartenbau

Für den restlichen Aufenthalt meines Fremdpraktikums, war es mir und meinem Anleiter wichtig, dass ich neben der Begleitung und Mitarbeit in den vielen verschiedenen Projekten auch selbst Verantwortung für ein eigenes Projekt übernehmen würde. In Anbetracht der erbärmlichen Lebenssituation und den vielen hungrigen Kindern in den Indiodörfern kam mir die Idee, ein Gemüsegartenprojekt in verschiedenen Indiogruppen zu beginnen. Ich besuchte also einige Gruppen und suchte nach Interessenten. In Gesprächen versuchte ich ihnen die Notwendigkeit des Gartenbaus für ihre Zukunft zu vermitteln. Mit zahlreichen Beispielen vom Suppen kochen mit Gemüse, dem preiswerten Anlegen eines Gartens, dem möglichen Verkauf der Ernte, der Unabhängigkeit durch eigene Lebensmittel, der sicheren Zukunft durch den Anbau, der gesunden Ernährung durch Gemüse, usw.  versuchte ich die verschiedensten Gruppen zu motivieren. Ich wollte ihnen einen Sinn in dieser Arbeit und einen Weg zeigen, um sich weiterzuentwickeln und so den Aufstieg in eine höhere Klasse zu schaffen.

Fakt war nämlich, dass viele Indios schon jegliche Hoffnung auf “Erfolg und Karriere” im einfachsten Sinne verloren hatten. Meine Aufgabe war es, ihnen eine neue Perspektive zu vermitteln, denn: Kein Mensch arbeitet, wenn keine Aussicht auf Erfolg besteht. Viele von ihnen haben sich schon längst mit der Tatsache abgefunden, dass sie niemals die Möglichkeit haben werden, ein mittelständisches Leben führen zu können, eine gute Arbeit zu haben und Geld zu verdienen. Die Indios sind sich dessen bewusst, dass sie niemals von der brasilianischen Gesellschaft integriert werden und somit immer ihr erbärmliches Leben im Niemandsland fortführen müssen. Mit meiner Arbeit wollte ich ihnen diese Hoffnungslosigkeit nehmen, ihnen helfen, selbst auf die Füße zu kommen. 

Die Tatsache, dass man sich sogar in der "ersten Welt", in Deutschland, für sie interessierte, gab ihnen viel Hoffnung und Zuversicht. 

Innerhalb meines Praktikums legte ich schließlich vier Gemüsegärten an. Ich betreute vier Erwachsenengruppen und eine Kindergruppe. Die Indios waren immer sehr erstaunt, als sich schon nach wenigen Tagen die ersten Pflanzen zeigten. Als sie sahen, dass ihr Garten funktionierte, wuchs ihr Interesse an diesem Projekt stetig an.
Die Arbeit mit ihnen gestaltete sich erstaunlich positiv. Ein Indio aus der Gruppe übernahm jeweils die Verantwortung für den Gemeinschaftsgarten. Er schaute jeden Tag nach dem Rechten und erstellte die Arbeitspläne für das Gießen, Hacken und Düngen.

Nach den drei Monaten Aufenthalt hatte ich die Indios in die wichtigsten Grundlagen des Gartenbaus eingelernt. Viele hatten den Sinn dieser Arbeit erkannt und spielten mit dem Gedanken, nach meiner “Gartenschule” bei ihrer eigenen Familie einen Garten anzulegen. Zwei andere Mitarbeiter der CIMI beschlossen, zukünftig dieses Gartenprojekt bei den Indios fortzuführen.

Mein Anleiter, Alido, meinte verzweifelt in meiner letzten Arbeitswoche: “Nein, nein, nein, tudo mundo querem horta”, was soviel bedeutet wie: “Alle Indios wollen einen Gemüsegarten”. Wobei ihm die Frage zu schaffen machte, wie man in allen Indiogruppen mit den wenigen Arbeitskräften der CIMI einen Gemüsegarten anlegen könnte.