Die einem Einzelnen zugefügte Ungerechtigkeit ist eine Bedrohung für uns alle

 

 


Die „Avicres" - Häuser in Nova Iquacu (Rio de janeiro)
- Erfahrungsbericht von Johannes Ghiraldin

Ein viertes interessantes Projekt, das ich besuchen durfte, waren die Einrichtungen von "Avicres", einer Hilfsorganisation, die sich vor allem der Straßenkinder in Nova Iguacu (Bundesstaat Rio de Janeiro) annimmt. 

Bei dieser Stadt handelt es sich um eine Millionenstadt, die zusammen mit mehreren anderen, gleich gearteten Städten den Armengürtel um Rio de Janeiro bildet, der - wegen seiner geographischen Lage - "Baixada" genannt wird. Das Straßenkinderproblem und alles, was damit zusammenhängt: Gewalt, Hunger, Krankheit, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit, Elend und Unterdrückung treten hier besonders krass in Erscheinung.

Um den Straßenkindern hier zu helfen, richtete der Paderborner Religionspädagoge Johannes Niggemeier im Jahr 1989 mit der brasilianischen Psychologin Tania Maria de Lima und einer Frauenkommission in der Favela "Lirio do Vale" (Lilie des Tales - die Favelas haben immer sehr schön , klingende Namen, um das Elend zu kaschieren, das dort herrscht) eine Kindertagesstätte ein. Hinzu kam bald darauf ein Gesundheitsposten für die ärztliche Grundversorgung der ca. 3000 Favelados (Bewohner von Elendshütten). Schritt für Schritt wird nun die hier begonnene Arbeit ausgebaut. Johannes, den ich persönlich seit 1987 kenne, weil er damals meine Schülegruppe aus Tauberbischofsheim und mich auf unserer Studienreise unter dem Thema "Soziale Gerechtigkeit - Theologie der Befreiung" durch einige Städte Brasiliens begleitet hat, gründete 1991 mit engagierten Brasilianerinnen und Brasilianern die unabhängige brasilianische Organisation "Avicres". In ihr wurden die bis dahin entstandenen Projekte zusammengefasst. Der Name dieser Organisation "Avicres" (portugiesisch) ist die Abkürzung für Associacao Vida no Crescimento e na Solidaridade. Das bedeutet zu deutsch: Gemeinschaft für Leben in Wachstum und Solidarität.

Die Arbeit der Avicres hat sich folgende Ziele gesetzt:

-   Erziehungs- und Gesundheitsvorsorge in den Elendsvierteln
    von Nova Iguacu,
-   Hilfe für Sozial- und Bildungsarbeit mit Straßenkindern,
-   Arbeit zur Verteidigung der Menschenrechte,
-   Unterstützung der Selbsthilfeorganisationen der Bevölkerung
    Brasiliens.

1992 wird in Paderborn die deutsche Brasilieninitiative Avicres e.V. als Partnerorganisation der brasilianischen Avicres gegründet, die hier in Deutschland Informations- und Öffentlichkeitsarbeit für die brasilianische Avicres machen und zugleich die finanzielle Unterstützung des brasilianischen Sozialwerkes ankurbeln möchte.

Die Arbeit von Avicres in Brasilien kann sich sehen lassen: Inzwischen gibt es:

- sieben Kindertagesstätten für je 3 5 bis 40 Kinder,
- drei Wohnhäuser für ca 60 Straßenkinder,
- eine Ganztagesschule mit ca 160 Plätzen für Kinder aus Landlosen- und Obdachlosensiedlungen
- zwei Gesundheitsstationen,
- eine Tischlerwerkstatt für die Ausbildung von Straßenkindern,
- eine Nähschule mit Schneiderei und Stoffdruckerei,
- eine kleine Farm, z.T. von Straßenkindern bewirtschaftet
-  eine Landwirtschaftsschule für ca. 30 Kinder aus ärmsten Landarbeiterfamilien,
- solidarische Begleitung einer der zwei letzten Sippen des Ureinwohnervolkes der Guarani
 

Das Konzept von Avicres sieht vor, dass alle Brasilianerinnen und Brasilianer selbst bestimmen, für welches Projekt sie das gespendete Geld verwenden, Die einzelnen Projekte sollen sich eines Tages selbst tragen. Außerdem kommt jede gespendete Mark den Kindern in Brasilien hundertprozentig zugute. Alle anfallenden Verwaltungskosten werden von den Mitgliedern hier in Deutschland selbst getragen. 

Ich konnte mich bei meinem Besuch in einigen Kinderkrippen, einem Straßenkinderhaus für Jungen, einem solchen für Mädchen, in den Gesundheitsstationen, in der Schreinerei und auf der kleinen Farm selbst überzeugen, weich hochwertige Arbeit in den Projekten geleistet wird. Inzwischen sind dort ca. 150 Angestellte beschäftigt, und das Haushaltsvolumen des gesamten Hilfswerkes beträgt pro Jahr ca. 750 000 Euro.

In der Farm werden Gemüse und Obst angebaut, es existiert dort eine Rinder- und Schweinezucht, Geflügel wird gehalten, einige Bienenvölker geben Honig, der in Brasilien sehr teuer verkauft werden kann, eine Schule ist dabei, in der etwa 30 Landarbeiterkinder unterrichtet werden. 

Zwei Familien wohnen dauernd auf der Farm und sorgen für den reibungslosen Betrieb. Diese Farm versorgt alle Avicres-Einrichtungen mit den notwendigen Lebensmitteln sodass nur noch ganz wenige Nahrungsmittel zusätzlich gekauft werden müssen.

Auf eine Sache ist Johannes besonders stolz: Inmitten des Farmgeländes gibt es einen kleinen See mit einer Insel. Auf dieser Insel haben ihm die Indios, die er betreut, ein Kulthaus, eine Hoga-Pisy, gebaut, das sie benutzen, wenn sie bei Avicres zu Besuch sind. Johannes sieht dieses Hoga-Pisy außerdem als "geistliches Zentrum" seiner Arbeit, in dem sich natürlich auch alle anderen Mitarbeiter und Straßenkinder von Avicres versammeln können, um von Gott neue Kraft für ihre Arbeit zu erbitten.

Der Besuch im Haus für Straßenjungen zeigte mir, wie versucht wird, drogenabhängige Jugendliche aus ihrem Milieu herauszuholen. Manche brauchen zu Beginn eine Methadonbehandlung, die unter ärztlicher Aufsicht vorgenommen wird, um die Entzugserscheinungen zu mildern. Das Haus hat einen sehr guten Ruf, und Johannes kann gar nicht alle Jungen aufnehmen, die sich darum bewerben, weil in diesem Haus nur 25 Plätze zur Verfügung stehen. Einige Anbauten, die in Kürze fertiggestellt sein werden, beenden die Enge, die bisher dort herrschte.

Diesem Haus angegliedert ist die Tischlerei, deren Erlös allen Avicres-Projekten zugute kommt. Durch einige größere Aufträge (Bestuhlung einer Kirche und eines Gemeindezentrums) hat sich diese Einrichtung, in der die Jungen unter Anleitung von erfahrenen Handwerkern arbeiten können, bereits finanziell unabhängig gemacht.

Die Schule hat eine sehr bewegte Geschichte, deren Verlauf diesen Rahmen hier sprengen würde. Auf jeden Fall können dort ca. 160 Kinder betreut werden, die aus ärmsten Verhältnissen kommen. Dieser Schule angegliedert ist eine Bäckerei, die das Brot für alle Avicres-Projekte backt und die einigen älteren Straßenkindem Arbeit gibt. Die Küche versorgt diese Kinder mit dem Lebensnotwendigsten, gekocht wird, wenn es die Witterung zulässt, auf einfachen Solaröfen, die die Sonnenstrahlen einfangen und fokussieren. Selbstverständlich gehören zu dieser Schule auch ein Garten, verschiedene Kleintiere (die in allen Projekten zu finden sind, denn liebevoll auch mit Tieren umzugehen ist eines der Erziehungsziele von Avicres), sowie ein Schwimmbad und ein großer Sportplatz, auf dem sich die Kinder austoben können.

Dieser Schule ist außerdem eine der Gesundheitsstationen angegliedert, die von mehreren Ärztinnen und Krankenschwestern betreut werden, Eine normale ärztliche Behandlung ist auch in Brasilien sehr teuer, und die Armen können sich eine solche nicht leisten. Deshalb wird in diesen Gesundheitsstationen nur sehr wenig Geld verlangt, niemand wird abgewiesen, auch wenn er nicht bezahlen kann, außerdem werden die in Brasilien sehr teuren Medikamente den Armen preisgünstig angeboten, sodass eine gesundheitliche Mindestversorgung auch für die Ärmsten gewährleistet ist. Ich konnte beide Gesundheitsstationen besuchen, und eine Krankenschwester hat Johannes und mir mit großem Vergnügen den Blutdruck gemessen.

Einen gewaltigen Eindruck hinterließ bei mir der Besuch im Haus für Straßenmädchen. Ca 20 Personen finden dort Unterkunft und ein je eigenes Zimmer. Erst vor kurzem ist dieses Haus an den Stadtrand von Nova Iguacu umgezogen. Es befindet sich in einem ehemaligen Klostergebäude, das ursprünglich für Ordensschwestern errichtet wurde, die aber wieder wegzogen. Die 14 - 18-jährigen Mädchen, die dort wohnen und nach vielen Anfangsturbulenzen sich inzwischen sehr wohlfühlen, haben Lebensgeschichten hinter sich, bei denen sich einem die Haare sträuben!

Aber lassen wir eine von ihnen, die 16-jährige Rejane, selbst zu Wort kommen, Johannes hat ihre Geschichte aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzt:

"Ich bin Rejane, 16 Jahre alt, wohnte im Haus meines Vaters zusammen mit meinem Bruder, meiner Stiefmutter und deren Tochter sowie deren Nichte. Wir lebten ein normales Leben wie alle Familien. Ich hatte mich verliebt in einen Jungen namens Gilcenei. Wir durften zusammen ausgehen, aber ich musste bis Mitternacht zurück sein. Aber eines Tages verspätete ich mich. Mein Vater schimpfte und schimpfte und wollte nicht mehr, dass ich bei ihm blieb. Also beschloss ich bei mir, von zu Hause wegzugehen... Ich ging zu einer Tante mütterlicherseits, die in Isaja lebte. Dort blieb ich etwa zwei Wochen, Aber meine Tante gehörte einer evangelikalen Sekte an, Sie forderte von mir, dass ich arbeiten gehe, und nach drei Tagen hatte ich schon eine Arbeit gefunden. Ich bekam wöchentlich mein Geld. Ich freundete mich mit der ganzen Nachbarschaft an und darum fing meine Tante an, mich "rebellisch" zu schimpfen. Das konnte ich nicht leiden, weil nichts daran war, und ich fühlte mich verkauft. Ich ging auch von da wieder weg, nahm zwei Omnibusse hintereinander, kannte mich überhaupt nicht mehr aus und kam zum Tiemongostrand nach Rio. Dort setzte ich mich in den Sand und weinte nur noch, weil ich ja allein war, und es war Nacht und sehr kalt. Als ich am Strand entlang ging, bemerkte ich einen Mann, der mich verfolgte. Da saß noch ein Junge im Sand, ich hielt inne und fragte ihn, ob ich mich neben ihn setzen dürfe, weil ein Mann mich verfolge. So saßen wir da und unterhielten uns. Ich erzählte alles, was mit mir los war, und auch er erzählte über sein Leben, z. B., dass er, als er noch jünger war, sich prostituiert hatte, um zu überleben. Er hatte es dann aber mit viel Anstrengung geschafft, davon loszukommen. Er lebte jetzt allein und habe eine hübsche Tochter. Sein einziges Problem sei jetzt sein jüngerer Bruder, der nämlich Drogen nehme. Von dort gingen wir weg zu einer Imbissbude, und er bezahlte alles für mich zu essen. Dann zeigte er mir einen Platz, an dem er sich früher aufhielt. Wir blieben die ganze Nacht zusammen und dann gab er mir gute Ratschläge und sagte, ich solle nichts Schlechtes machen und ging nach Hause. Ich blieb dort sitzen und freundete mich mit verschiedenen Leuten an, aber im Morgengrauen gingen sie immer wieder weg. Ich guckte dann um mich und sah niemanden mehr. So habe ich mich dann in einer der Nächte mal unter ein Auto gelegt, um zu schlafen. Aber ich blieb wach bis zum Sonnenaufgang.

Später kam ich zum Strand zurück, und ich rief meine Schwester Jusara an, die in Belo Horizonte im Staat Minas Gerais wohnte, und bat sie, mich zu holen, weil ich auf der Straße wohnte und nicht mehr wusste, wohin. Meine Schwester war entsetzt und bat mich, einen Ort auszumachen, wo ich bis zum nächsten Samstagmorgen bleiben konnte und sie mich abholen könne. Ich ging zum Haus einer Freundin, die etwas entfernt wohnte vom Haus meines Vaters. Am Samstagmorgen war meine Schwester da und wartete auf mich. Von dort aus fuhren wir zum Busbahnhof nach Rio... und ich fuhr mit nach Mina Gerais. Dort blieb ich drei Monate, aber nach vielen Streitereien beschloss ich, wegzugehen. Ich ging zurück zum Haus derselben Freundin, bei der ich vor der Reise gewesen war. Das war aber nur für die Nacht. Tagsüber habe ich viel getrunken, und einmal, nach einem großen Durcheinander, ging ich von dort weg zu einer anderen Freundin namens Edina. Da blieb ich zweieinhalb Wochen, und nach viel Streiterei ging ich auch von dort weg, zurück zu Patricia. Aber dort nahm das Durcheinander kein Ende: An einem Tag hatten wir ein Fest, am anderen Streit. Also haute ich einfach mal ab und ging zu Claudia, einer anderen Freundin, Sie lebte in der Favela "Untirao", nicht weit von meinem Zuhause.

Dort lernte ich einen hübschen Mann kennen. Aber das Pech war, dass er einer der Drogenbosse der Favela "Jacari" war. Trotz allem verliebte ich mich leidenschaftlich in ihn, ging mit ihm nach Hause und machte ihm den Haushalt. Dort blieb ich, bis eines Tages einer seiner Kollegen bei einem Schusswechsel mit der Polizei umkam. Wir gingen von dort weg nach Jacari. Auch dort organisierte er den Drogenhandel, und ich blieb zu Hause, bis eines Tages ein Kind an die Tür klopfte und sagte, mein Mann sei gefangen genommen worden. Ich fiel in tiefe Enttäuschung, rannte zum Polizeiauto, bettelte, weinte und schrie, sie möchten ihn freilassen. Aber es half nichts. Mein Mann kam ins Gefängnis, und ich ging zurück und blieb mal hier, mal dort, bei diesem und jenem zu Hause. Ich war des Lebens überdrüssig und lehnte mich dagegen auf, weil die große Liebe meines Lebens nicht mehr an meiner Seite war. Ich fühlte mich betrogen und fing an, Drogen zu nehmen. Es ging in mir beinahe bis zum Tode, und im Drogenrausch meinte ich immer, es seien Leute hinter mir her. Aber dann merkte ich, dass ich tatsächlich nicht mehr allein war. Ich war nämlich schwanger. Ich habe über verschiedene Sachen nachgedacht, einschließlich Abtreibung. Ich dachte, wie soll ich ein Kind aufziehen, wenn es keinen Platz hat, wo es schlafen kann. Aber nach vielen Beratungen und Ratschlägen beschloss ich, diesem Leben eine Möglichkeit zu geben. Ich ging zu einem Jugendrichter und erzählte meine ganze Geschichte und bat ihn, mich an irgendeinen Ort zu schicken, wo ich mein Baby pflegen könne in Ruhe und Frieden.

Aber sie schickten mich an einen schlechtestmöglichen Ort: "CRIAM" in Nilopolis (eine andere Stadt der Baixada). Aber da gab es nichts von all dem, worauf ich gehofft hatte. Es lebten dort nur Jungen, bis auf ein Mädchen, und auch der Drogenhandel ging dort leicht vonstatten. So bin ich nach einem Monat weggelaufen. Ich ging zum Haus meines Vaters. Aber da angekommen, wollte er nicht mit mir sprechen. Also musste ich wieder weg. Aber mein Bruder sagte, ich solle nicht wieder auf die Straße gehen, und es gäbe einen Ort, wo Mädchen lebten, und ich sagte, dahin wolle ich. Am nächsten Tag ging ich zum Jugendrichter, und sie schickten mich zur "Casa da Esperanca" der Avicres.

  Hier bin ich bis heute seit elf Monaten. Hier habe ich Leute getroffen, die mich wie einen Menschen behandeln, und ich bin dabei, heil und gesund zu werden. Ich habe das schönste Geschenk bekommen, das Gott nur geben konnte, mein hübsches Mädchen, meine Tochter Raissa, die ich ganz, ganz lieb habe. Dank für alles! Vielen Dank, dass ihr mich und meine Tochter in euer Haus aufgenommen habt! Ich habe euch alle lieb! Rejane

Bei meinem Besuch im Mädchenhaus durfte ich Rejane kennenlernen, und ich bin sehr dankbar dafür. Sie ist ein fröhliches, äußerst sympathisches Mädchen, dem man seine Vergangenheit gottseidank nicht mehr ansieht, wobei ich mir im Klaren bin, dass Wunden und Narben in der Seele dieses Mädchens allerdings bleiben werden. Dass die Arbeit von Johannes gerade in diesem Bereich, im Jungen- und Mädchenhaus, von verschiedenen Kreisen, der Drogenmafia und der Rotlichtszene, nicht gern gesehen wird und diesen Leuten ein Dorn im Auge ist, habe ich durch eine Schilderung von Johannes selbst erfahren: Er entging nur knapper Not in letzter Zeit mehreren Mordanschlägen, "Habe ich dir schon erzählt," so sagte er einmal bei einer Fahrt zum Mädchenhaus, "dass dieser Straßenabschnitt meine Todesstrecke ist? Nein? Vor kurzem merkte ich, wie ein Fahrzeug zum Überholen ansetzte. Im Rückspiegel sah ich, dass ein Maschinengewehr auf mich gerichtet war. Geistesgegenwärtig gab ich Gas, in selben Moment kam zum Glück ein Lastwagen entgegen, und der Wagen schräg hinter mir musste wieder einscheren. Da bin ich denen davongerast." Ein anderes Mal drangen einige junge Burschen im Mädchenhaus in sein Zimmer ein und wollten ihn mit Eisenrohren erschlagen. Er war zum Glück nicht zu Hause...

Die Avicres im Internet:
www.avicres.de